Frauengeschichte(n)
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Der Begriff ist mir noch nicht so richtig geläufig. Ich habe früher immer von Suizid gesprochen und verstand darunter Selbstmord und dass man sich selbst zerstört – ermordet. Meine Mutter ist daraufhin in einer Klinik gewesen und hat Folgeerscheinungen gezeigt, die sich vor allen Dingen in einer ziemlich großen Verwirrtheit äußerten. Sie erhielt dagegen viele Medikamente. Wir, meine Schwestern und ich, wussten nicht genau – ist diese Verwirrtheit jetzt eine Folge dieser Medikamente und lässt sie nach, wenn sie die Medikamente vielleicht nicht mehr einnehmen muss, oder ist das ein Zeichen der Zukunft? Wir hätten dann entscheiden müssen, ob sie weiterhin alleine leben kann oder in ein Pflegeheim gehen muss - für immer. Ich hatte mir vorgenommen, mit ihr zu sprechen, denn sie war ja zu diesem Zeitpunkt noch in der Lage dazu. Ich hatte das Bedürfnis mit ihr darüber zu reden und mir das für ein Wochenende vorgenommen. Ja, dann saß sie mir gegenüber und ich versuchte mir Worte zurechtzulegen. Sie saß mir gegenüber in dem Liegesessel von Vater – er hieß Vaters Sessel - ich daneben. In diesem Sessel verbringt sie jetzt im Grunde genommen zwei drittel des Tages, meistens schläft sie. Plötzlich sagte sie: „Du, Elke, ich würde gerne reden mit dir über, na, du weißt schon – über diese Sache – wie nennt man das noch mal... De...De...“ „— Ach du meinst Demenz“, sagte ich schnell. „Ja, darüber möchte ich mit dir reden“. Dann sprachen wir über ihren Verwirrtheitszustand und sie erzählte mir, was sie erlebt – das sie so vergesslich geworden ist, dass sie morgens früh aufsteht und manchmal nicht weiß, ist es jetzt Tag oder wird es jetzt dunkel und es ist Nacht. Dass sie dann aufsteht und nicht weiß, ob sie jetzt frühstücken soll. Ihr hilft auch die Uhr nicht. Sie kann die Frage nicht beantworten und ruft dann verzweifelt meine Schwester oder mich an und wir müssen das für sie klären. Sie erzählte wie das ist, wenn sie wieder vergessen hat, ihre Tabletten einzunehmen und von ihrer großen Müdigkeit und wollte von mir wissen, ob das immer so weiter geht. Ich war froh, dass ich vorher ein bisschen zum Thema gelesen hatte und ihr sagen konnte: „Mutter wir wissen es nicht – wir wissen im Augenblick nicht was ist. Es kann tatsächlich sein, dass alles nur eine Folge der Medikamente ist. Der Medikamente, die du geschluckt hast, als du deinen Freitod... – da ging mir dieses Wort das erste Mal ganz gut über die Lippen – als du deinen Freitodversuch gemacht hast. Da hast du ja so viele Tabletten geschluckt, die dein Gehirn durcheinander gebracht haben können. Das alles kann sich wieder ändern, aber wir wissen es nicht. Es kann tatsächlich auch sein, dass dies die ersten Demenzerscheinungen sind. Das heißt, dass du so nach und nach tatsächlich verwirrter wirst.“ Für meine Mutter, das wusste ich, ist das das schlimmste, was ihr passieren kann. Sie war immer so stolz darauf, dass sie z.B. alle Telefonnummern auswendig lernen konnte. Das hat sie gemacht! Sie hat alle unsere Telefonnummern im Kopf. Sie hat häufig Zahlen gelernt und Kreuzworträtsel gelöst – mit dem Vater noch - als Gehirntraining. Ihr war so wichtig, dass das Gehirn funktioniert. Nicht irgendwelche Intelligenz oder Klugheit war von Bedeutung – sondern, dass sie denken - sich erinnern - kann. In diesem Augenblick im Gespräch versuchte ich mir vorzustellen, wie das ist, wenn ich 80 bin und irgendwie weiß, jetzt – jetzt vielleicht - kommt es auch auf dich zu. Du kannst es nicht verhindern. Da nimmt dir - da wird dir genommen – da wird dir einfach deine Klarheit genommen und du weißt gar nicht mehr, dass das was du tust, ob das wirklich das ist, was du auch möchtest, dass du einfach nicht mehr klar entscheiden kannst und Dinge tust, die nicht in deiner Hand liegen. Ja, das hatte ich mir vorher nie konkret vorgestellt und jetzt sprach meine Mutter mit mir darüber. Sie war natürlich ganz vorsichtig – aber ich hatte sie selten so offen erlebt. Wir hatten wenig Gespräche – wirkliche Gespräche - vorher, meistens erzählten wir einander, wie es uns geht, wenig darüber, was im Augenblick, jetzt und hier, wichtig ist. An diesem Thema und diesem Tag jedoch war sie mir so nah, wie ich glaube - nie zuvor. Ich spürte das in der Situation. Ich fühlte diese Nähe und dass das es bei ihr genauso war. Sie guckte zwar häufig weg – aber zwischendurch schaute sie mich auch an und lächelte. Ja, wir hatten nicht nur Augen- und Gefühlkontakt, es war einfach ein wunderschönes gemeinsames Erlebnis. |
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Elke Werneburg - email: art-herstory@web.de |