Solo 1: Karina
In der Volksschule saß sie in der ersten Reihe und
fiel nicht weiter auf. Karina war ruhig und arbeitete fleißig mit;
gelegentlich ließ sie sich von Albernheiten ihrer Banknachbarinnen
anstecken und kicherte. Ich fand sie langweilig; heute würde ich sagen
angepasst.
Als sie von unserem cholerischen Klassenlehrer einer
Unart beschuldigt wurde, die sie vehement bestritt, überraschte sie
mich. Der Lehrer brüllte sie an. Karina stand auf und packte ihren
Tornister. Mit vor Zorn hochrotem Kopf und Tränen der Wut in den Augen
verließ sie die Bank, kümmerte sich nicht um den Stuhl, der
nach hinten umfiel, reagierte nicht auf den Lehrer, der sie anherrschte:
Was ihr einfiele, wohin sie wolle. Sie ging an ihm vorbei zur Tür
und knallte sie hinter sich zu.
Das erschien mir mit sechs Jahren als unerhört. Ich
erwartete, dass Karinas Verhalten Schwierigkeiten heraufbeschwören
würde.
Nichts dergleichen . Am nächsten Tag saß sie
wieder in ihrer Bank; der Lehrer ignorierte sie und behandelte sie mit
Vorsicht.
Auf dem Schulhof ging ich zu ihr und fragte sie, wie
ihre Eltern reagiert hätten, als sie so plötzlich am Vormittag
vor der Tür stand. Meine Eltern hätten Weglaufen aus der Schule
als Vergehen bestraft und nichts davon hören wollen, was mich dazu
veranlasste. Wenn ich mich über das Verhalten anderer beklagte, bekam
ich zu bedenken, ich hätte vermutlich meinen Anteil zur Situation
beigetragen.
Karina wusste gar nicht, warum ich so etwas fragte.
Ihre Eltern waren beide zuhause gewesen, hatten zugehört
und ihr Recht gegeben. Später hatte ihr Vater den Lehrer aufgesucht
und zur Rede gestellt.
Solo 2: Karinas Vater
Nach der vierten Klasse fand ich mich mit Karina als Einziger
aus meiner alten Volksschulklasse in der weiterführenden Schule, und
wie selbstverständlich machten wir unseren Schulweg gemeinsam.
Sie war immer noch ruhig und fleißig, und ihre
gleich bleibende Freundlichkeit stachelte mich oft dazu an, sie zu provozieren,
wenn mir auch dieser Zusammenhang damals nicht bewusst war.
Karina beklagte sich oft über ihren älteren
Bruder, und ich verstand nicht, warum sie sich von ihm dermaßen drangsalieren
ließ. Ich fand sie zu passiv und zettelte Auseinandersetzungen an,
um sie aus der Reserve zu locken. Anschließend nahm ich mir mein
Verhalten dann selbst übel.
Eines Tages ging ich so weit, ihr die Freundschaft aufzukündigen.
Wir waren wie üblich zusammen nach Hause gegangen und hatten noch
eine Weile an der Straßenecke gestanden, wo sich unsere Wege trennten,
als ich sie mit dieser Neuigkeit aus heiterem Himmel überfiel. Sie
glaubte zunächst an einen Scherz, und als sich ihr Gesichtsausdruck
von Erstaunen in Verletztheit veränderte, drehte ich mich um und ging.
Ihr verletzter Ausdruck begleitete mich durch das Mittagessen,
das mir nicht schmeckte, beim Hausaufgabenmachen und dann weiter, so dass
mein Schuldgefühl ins Unerträgliche stieg und ich mich aufmachte,
um sie wie immer zum Spielen abzuholen.
Ihr Vater öffnete die Tür und sah mich tief
erstaunt an. Dann sehr ernst. Jetzt erst wurde mir klar, dass Karina ihren
Eltern alles erzählt hatte. Noch immer in der Tür, fragte ihr
Vater, ob mir klar wäre, was ich angerichtet hätte.
Ich war verlegen; wollte mich lieber mit Karina auseinandersetzen
als mit ihrem Vater. Karina stand inzwischen hinten im Eingangsflur und
schwieg. Als ich gehen wollte, zog mich ihr Vater gegen meinen Widerstand
in die Küche, und stellte mir Fragen. Was genau ich zu Karina gesagt
hätte. Ob es mir ernst gewesen sei. Was der Grund dafür sei.
Ich antwortete ihm, verärgert über diesen Druck, aber aufrichtig:
Unsere regelmäßigen Streitereien seien der Anlass gewesen. Seine
nächste Frage war: Und wer fängt diese Streitereien an? Ich:
Meistens ich.
Ich stand dicht vor ihm; er zwang mich, ihm in die Augen
zu sehen und ich wartete auf die Strafpredigt.
Stattdessen verstummte er. Er starrte mich an, als könne
er nicht glauben, was er da gehört hatte. Bat mich, das zu wiederholen.
Ich tat es; es fiel mir schwer; ich betrachtete es als Teil der Strafe.
Hinter mir hörte ich Karinas Mutter: Nun lass sie doch in Ruhe.
Karinas Vater begann mich anzustrahlen. Ich hielt es
für Ironie, als er sagte, dass ihn meine Ehrlichkeit beeindruckte.
Das Folgende übertraf die Peinlichkeit der
Verhörsituation.
Er begann eine Lobeshymne an mich und eine Tirade über
Ehrlichkeit im Allgemeinen, verglich mich dann positiv mit seinen eigenen
Kindern.
Ich wollte nur noch weg.
Karina stand hinter mir.
Sie tat mir leid.
Ich bat ihn, gehen zu dürfen, als ich sprach, schien
er erst zu bemerken, dass er mich immer noch festhielt; er entschuldigte
sich fast.
Karina und ich saßen uns in ihrem Zimmer schweigend
und verlegen gegenüber. Es erschien mir als Ewigkeit, und als wir
wieder redeten, brauchten wir nichts mehr zu erklären.
Solo 3: Rahel
Meine Freundin Rahel lernte ich an der Universität
kennen. Wir verloren uns später aus den Augen, blieben aber in regelmäßigem
Briefkontakt. Als sie mich nach langer Zeit besuchte, waren wir beide verheiratet
und hatten Kinder im Kindergarten-Alter.
Wir verbrachten die Zeit mit Reden; mein Sohn lief nach
Draußen zum Spielen im Sandkasten, ihrer zog es vor, das unbekannte
Spielzeug im Kinderzimmer auszuprobieren. Während unseres Gespräches
klingelte mein Sohn und rannte wortlos an mir vorbei ins Kinderzimmer.
Ich fand seinen Gesichtsausdruck merkwürdig, konnte ihn nicht unmittelbar
deuten und dachte nicht weiter darüber nach, da es im Kinderzimmer
friedlich zuzugehen schien. Wir nahmen den abgerissenen Gesprächsfaden
wieder auf.
Als es zum zweiten Mal klingelte, stand ein aufgebrachter
Nachbar vor der Tür, Vater zweier kleiner Mädchen, und beklagte
sich bitter über meinen Sohn. Noch während er auf mein Nachfragen
hin schilderte, was im Sandkasten passiert war, trat Rahel hinter mich.
Sie unterbrach und gab zurück, seine Töchter würden wohl
auch etwas angestellt haben, ohne Grund würfe niemand mit Sand,
und wenn ein kleiner Stein dazwischen geraten sei, könne er das nicht
als Absicht auslegen.
Ich schwieg verblüfft. Mich überraschte, dass
sie sich überhaupt einmischte, aber vor allem, dass sie Partei ergriff,
ohne sich ein Bild vom Vorgang zu machen. Gleichzeitig konnte ich nun den
eigenartigen Gesichtsausdruck meines Sohnes als Schuldbewusstsein mit Angst
vor Strafe identifizieren.
Der Vater zog wieder ab, nachdem ich ihm erklärte,
ich werde meinen Sohn befragen und je nach Ergebnis entsprechend reagieren.
Als ich die Tür schloss, fuhr Rahel mich an:
Ich habe als Mutter meinen Sohn zu verteidigen.
Sie hatte sich eingemischt, als sie hörte, dass
ich das nicht tat und stattdessen nachfragte, was geschehen sei.
Ich entgegnete ihr, verteidigen könne ich erst,
nachdem ich das Geschehene einschätzen könne, und auch nur, falls
es tatsächlich nichts von Bedeutung sei. Das verstand sie gar nicht.