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"Gesundheitssoli" von Marlene (Deutschland, geb. 1947)
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Solo 1: Karina

In der Volksschule saß sie in der ersten Reihe und fiel nicht weiter auf. Karina war ruhig und arbeitete fleißig mit; gelegentlich ließ sie sich von Albernheiten ihrer Banknachbarinnen anstecken und kicherte. Ich fand sie langweilig; heute würde ich sagen angepasst.
Als sie von unserem cholerischen Klassenlehrer einer Unart beschuldigt wurde, die sie vehement bestritt, überraschte sie mich. Der Lehrer brüllte sie an. Karina stand auf und packte ihren Tornister. Mit vor Zorn hochrotem Kopf und Tränen der Wut in den Augen verließ sie die Bank, kümmerte sich nicht um den Stuhl, der nach hinten umfiel, reagierte nicht auf den Lehrer, der sie anherrschte: Was ihr einfiele, wohin sie wolle. Sie ging an ihm vorbei zur Tür und knallte sie  hinter sich zu.

Das erschien mir mit sechs Jahren als unerhört. Ich erwartete, dass Karinas Verhalten Schwierigkeiten heraufbeschwören würde.
Nichts dergleichen . Am nächsten Tag saß sie wieder in ihrer Bank; der Lehrer ignorierte sie und behandelte sie mit Vorsicht.
Auf dem Schulhof ging ich zu ihr und fragte sie, wie ihre Eltern reagiert hätten, als sie so plötzlich am Vormittag vor der Tür stand. Meine Eltern hätten Weglaufen aus der Schule als Vergehen bestraft und nichts davon hören wollen, was mich dazu veranlasste. Wenn ich mich über das Verhalten anderer beklagte, bekam ich zu bedenken, ich hätte vermutlich meinen Anteil zur Situation beigetragen.
Karina wusste gar nicht, warum ich so etwas fragte. 
Ihre Eltern waren beide zuhause gewesen, hatten zugehört und ihr Recht gegeben. Später hatte ihr Vater den Lehrer aufgesucht und zur Rede gestellt.

Solo 2: Karinas Vater

Nach der vierten Klasse fand ich mich mit Karina als Einziger aus meiner alten Volksschulklasse in der weiterführenden Schule, und wie selbstverständlich machten wir unseren Schulweg gemeinsam.
Sie war immer noch ruhig und fleißig, und ihre gleich bleibende Freundlichkeit stachelte mich oft dazu an, sie zu provozieren, wenn mir auch dieser Zusammenhang damals nicht bewusst war. 
Karina beklagte sich oft über ihren älteren Bruder, und ich verstand nicht, warum sie sich von ihm dermaßen drangsalieren ließ. Ich fand sie zu passiv und zettelte Auseinandersetzungen an, um sie aus der Reserve zu locken. Anschließend nahm ich mir mein Verhalten dann selbst übel. 

Eines Tages ging ich so weit, ihr die Freundschaft aufzukündigen. Wir waren wie üblich zusammen nach Hause gegangen und hatten noch eine Weile an der Straßenecke gestanden, wo sich unsere Wege trennten, als ich sie mit dieser Neuigkeit aus heiterem Himmel überfiel. Sie glaubte zunächst an einen Scherz, und als sich ihr Gesichtsausdruck von Erstaunen in Verletztheit veränderte, drehte ich mich um und ging.

Ihr verletzter Ausdruck begleitete mich durch das Mittagessen, das mir nicht schmeckte, beim Hausaufgabenmachen und dann weiter, so dass mein Schuldgefühl ins Unerträgliche stieg und ich mich aufmachte, um sie wie immer zum Spielen abzuholen.
Ihr Vater öffnete die Tür und sah mich tief erstaunt an. Dann sehr ernst. Jetzt erst wurde mir klar, dass Karina ihren Eltern alles erzählt hatte. Noch immer in der Tür, fragte ihr Vater, ob mir klar wäre, was ich angerichtet hätte.
Ich war verlegen; wollte mich lieber mit Karina auseinandersetzen als mit ihrem Vater. Karina stand inzwischen hinten im Eingangsflur und schwieg. Als ich gehen wollte, zog mich ihr Vater gegen meinen Widerstand in die Küche, und stellte mir Fragen. Was genau ich zu Karina gesagt hätte. Ob es mir ernst gewesen sei. Was der Grund dafür sei. Ich antwortete ihm, verärgert über diesen Druck, aber aufrichtig: Unsere regelmäßigen Streitereien seien der Anlass gewesen. Seine nächste Frage war: Und wer fängt diese Streitereien an? Ich: Meistens ich.

Ich stand dicht vor ihm; er zwang mich, ihm in die Augen zu sehen und ich wartete auf die Strafpredigt.
Stattdessen verstummte er. Er starrte mich an, als könne er nicht glauben, was er da gehört hatte. Bat mich, das zu wiederholen. Ich tat es; es fiel mir schwer; ich betrachtete es als Teil der Strafe. Hinter mir hörte ich Karinas Mutter: Nun lass sie doch in Ruhe.
Karinas Vater begann mich anzustrahlen. Ich hielt es für Ironie, als er sagte, dass ihn meine Ehrlichkeit beeindruckte. 
Das Folgende  übertraf die Peinlichkeit der Verhörsituation. 
Er begann eine Lobeshymne an mich und eine Tirade über Ehrlichkeit im Allgemeinen, verglich mich dann positiv mit seinen eigenen Kindern.
Ich wollte nur noch weg.
Karina stand hinter mir.
Sie tat mir leid.
Ich bat ihn, gehen zu dürfen, als ich sprach, schien er erst zu bemerken, dass er mich immer noch festhielt; er entschuldigte sich fast.
Karina und ich saßen uns in ihrem Zimmer schweigend und verlegen gegenüber. Es erschien mir als Ewigkeit, und als wir wieder redeten, brauchten wir nichts mehr zu erklären.
 

Solo 3: Rahel

Meine Freundin Rahel lernte ich an der Universität kennen. Wir verloren uns später aus den Augen, blieben aber in regelmäßigem Briefkontakt. Als sie mich nach langer Zeit besuchte, waren wir beide verheiratet und hatten Kinder im Kindergarten-Alter.
Wir verbrachten die Zeit mit Reden; mein Sohn lief nach Draußen zum Spielen im Sandkasten, ihrer zog es vor, das unbekannte Spielzeug im Kinderzimmer auszuprobieren. Während unseres Gespräches klingelte mein Sohn und rannte wortlos an mir vorbei ins Kinderzimmer. Ich fand seinen Gesichtsausdruck merkwürdig, konnte ihn nicht unmittelbar deuten und dachte nicht weiter darüber nach, da es im Kinderzimmer friedlich zuzugehen schien. Wir nahmen den abgerissenen Gesprächsfaden wieder auf.

Als es zum zweiten Mal klingelte, stand ein aufgebrachter Nachbar vor der Tür, Vater zweier kleiner Mädchen, und beklagte sich bitter über meinen Sohn. Noch während er auf mein Nachfragen hin schilderte, was im Sandkasten passiert war, trat Rahel hinter mich. Sie unterbrach und gab zurück, seine Töchter würden wohl auch etwas angestellt haben, ohne Grund würfe  niemand mit Sand, und wenn ein kleiner Stein dazwischen geraten sei, könne er das nicht als Absicht auslegen.
Ich schwieg verblüfft. Mich überraschte, dass sie sich überhaupt einmischte, aber vor allem, dass sie Partei ergriff, ohne sich ein Bild vom Vorgang zu machen. Gleichzeitig konnte ich nun den eigenartigen Gesichtsausdruck meines Sohnes als Schuldbewusstsein mit Angst vor Strafe identifizieren.
Der Vater zog wieder ab, nachdem ich ihm erklärte, ich werde meinen Sohn befragen und je nach Ergebnis entsprechend reagieren.
Als ich die Tür schloss, fuhr Rahel mich an: 
Ich habe als Mutter meinen Sohn zu verteidigen. 
Sie hatte sich eingemischt, als sie hörte, dass ich das nicht tat und stattdessen nachfragte, was geschehen sei. 
Ich entgegnete ihr, verteidigen könne ich erst, nachdem ich das Geschehene einschätzen könne, und auch nur, falls es tatsächlich nichts von Bedeutung sei. Das verstand sie gar nicht. 

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Elke Werneburg - email: art-herstory@web.de